Dozent in doppelter Mission
Neben seinem Lehr- und Erziehungsauftrag am Kirchlichen Oberseminar Hermanswerder steht noch eine andere Aufgabe auf Werner Koltzers Agenda: „Die Aufklärung und Zurückdrängung des Wirkens reaktionärer kirchlicher Kräfte“, undercover – versteht sich. Als Christ und Pädagoge überzeugt vom Sozialismus wird das zum Akt der Selbstzerstörung.
Werner Koltzer
- 1924 geboren
- Verheiratet, fünf Kinder
- Diplom-Pädagoge, Unterrichtsfächer Deutsch und Geschichte
- 1953 - 1969 Leiter des evangelischen Proseminars in Dahme/Spree
- CDU-Stadtverordneter in Dahme
- 1968 - 1985 Inoffizieller Mitarbeiter bei der Staatssicherheit unter dem Decknamen „Dozent“
- 1969 - 1977 Internatsleiter und Dozent am Kirchlichen Oberseminar Hermannswerder (KOS)
- 1978 - 1985 Dozent (KOS)
- 1985 Renteneintritt
Die Entwicklung auf Hermannswerder beäugt der SED-Staat mit zunehmendem Argwohn. Man braucht Berichte von dort. Werner Koltzer ist dafür scheinbar der richtige Mann. Seine geheimdienstliche Aufgabe für die Staatssicherheit besteht in der offensiven Beeinflussung der Arbeit des Kirchlichen Oberseminars, der Erstellung fortlaufender Einschätzungen, der Gestaltung eines guten Drahtes in die kirchliche Jugendarbeit, der Kontrolle des Rektors und der Schüler. So einer wie Werner Koltzer ist leichte Beute: Frustriert über die Abwicklung seiner Dienststelle und seine Zurücksetzung vom Rektor im Proseminar Dahme zum Internatsleiter in Hermannswerder lässt er sich 1968 als IM Dozent mit der Staatssicherheit ein. Ohnehin ist er nicht wirklich überzeugt von seinem neuen Bildungsauftrag. Hier kommen die Schüler nämlich aus vermeintlich reaktionären Pfarrfamilien und sind der „modernen Theologie“ nicht aufgeschlossen. So denkt der Pädagoge.
Tatsächlich gilt die Insel als ernstzunehmender politischer Problemfall: Das Seminar ist Zufluchtsort aus kirchlichem, inzwischen aber auch zunehmend nicht kirchlichem Umfeld. Aufgrund der Abgelegenheit finden hier zudem zahlreiche kirchliche Tagungen und Treffen statt, um sich der Überwachung zu entziehen. Dieser staatsfernen Welt wird jetzt zu Leibe gerückt.
Über 15 Jahre werden alle Zu- und Abgänge, samt Biographien, Freundschaften, politische Ansichten, Freizeitinteressen und vor allem Westkontakte von IM Dozent „abgeschöpft“. Egal ob Seminaristen oder Kollegen.
Jugendliche oder Arbeitsgruppen, die sich mit Problemen der Dritten Welt beschäftigen, Petitionen für das Ende des Nicaragua Krieges an den US-Präsidenten verfassen oder die vermeintlich falschen Bücher lesen, werden von ihm agitiert. Die Ausreisewilligen und Antragsteller unter ihnen sind seiner Ansicht nach schon auf „dem Weg der Kriminalisierung“.
Dennoch ist Koltzer bemüht, im Rahmen seiner sozialistischen Wertmaßstäbe anständig zu handeln. Diskutiert viel mit den Schülern, schafft eine besondere Nähe durch sein ehrliches und zugewandtes Interesse. Und: Er ist sehr beliebt. Zwar wird er als systemnah wahrgenommen, doch niemand traut ihm dieses Doppelleben zu.
Ein besonders heikles Thema im Kirchlichen Oberseminar sind die Wahlen. Egal welche. Es ist immer das gleiche: Er soll dafür sorgen, dass alle Seminaristen daran teilnehmen, doch die meisten zeigen wenig Interesse bis Ablehnung gegenüber seinen politischen Agitationsbemühungen. An der Wahl 1976 nehmen seiner Schätzung nach nur etwa fünfzig Prozent der Schüler teil. Bei ungefähr der Hälfte sind es politische Gründe, während der Rest scheinbar verpasst, sich einen Wahlschein zu organisieren. Viele Jugendliche sind durchaus an Politik interessiert, stehen aber dem System und seinen Zwangsmechanismen kritisch gegenüber.
Zum 28. Jahrestag der Gründung der DDR wird IM Dozent mit der Medaille für treue Dienste der NVA (Nationale Volksarmee) in Bronze ausgezeichnet. Eigentlich hätte sie wohl die Staatssicherheit verleihen müssen. Diese Ehrung bereitet ihm aber einiges Kopfzerbrechen, sollte die Kirchenleitung davon doch auf keinen Fall erfahren. Zu gut wusste er um die großen Bedenken dort gegen seine persönliche Integrität.
In den achtziger Jahren beginnt sich Koltzers Haltung zu wandeln: Ernüchtert von den politischen Verhältnissen und der mangelnden Anerkennung seiner Arbeit erkennt sein Führungsoffizier im Mai 1981 „eine zunehmend kritische Beurteilung der DDR und … der umfangreichen Veröffentlichungen der Parteitage, die niemand liest.“
Auch seine Berichte werden immer spärlicher. Der Spitzen-IM, als der er einst von der Staatssicherheit klassifiziert wurde, ist enttäuscht und frustriert. Er wird nicht gesehen in seinen ehrlichen Bemühungen für Kirche und Sozialismus. 1985 geht er invalidisiert in den Ruhestand. Viele seiner Schüler erfahren später von seinem Doppelleben. Es ist eine große Enttäuschung, am Ende für alle.