Naturwissenschaften für Mädchen
Er ist ein Menschenfreund, überzeugender Pädagoge und aufrechter Charakter in stürmischen Zeiten. Immer wieder wird er als liebenswürdig und hilfsbereit beschrieben – selbst als Johann Driesen nur noch Hilfsarbeiter sein durfte. Fraglos ein Mensch mit Herzensbildung.
Johann Driesen
- 1898 geboren in Moers – ca. 1960 gestorben
- 1929 Referendariat an der Fürstenwall-Oberrealschule Düsseldorf
- 1930 Lehrer für Mathematik und Physik in der Hoffbauer-Stiftung
- 1940 Co-Autor beim „Lehrbuch der Physik für die höheren Schulen“
- 1945 Hilfsarbeiter im Maschinenhaus Hermannswerder
- 1946 Entlassung aus dem Dienst der Hoffbauer-Stiftung
- 1952 Übersiedlung nach Westdeutschland
Getrieben von den Idealen moderner Pädagogik steht der engagierte Physiklehrer für selbständige und offene Lernformen. Seinem Verständnis einer ganzheitlichen Wissensvermittlung entsprechen nicht nur Exkursionen in die Natur, sondern gerne auch Physikunterricht draußen im idyllischen Inselsommer. Gemäß seiner Grundüberzeugung über eine Korrelation von Wissenschaft und Religion steht seine Bildungsarbeit im Kontext der christlichen Lehre.
Aber auch selbstbestimmte Bildung prägen den vielfältigen Schulalltag der dreißiger Jahre: Arbeitsgemeinschaften, Zusatzkurse in Latein, Physik und Kunstgeschichte oder englische Konversation, Filmabende, Lichtbildervorträge sowie Ausflüge zu ausgewählten kulturellen Veranstaltungen stehen zur Auswahl.
Zudem sorgen diverse sportliche Angebote wie Tennis, Rudern, Turnen, Gymnastik, Schwimmen und Eislauf für abwechslungsreiche körperliche Ertüchtigung. Mit der Übernahme der Schulleitung durch Rektor Johannes Kühne werden Klassenfahrten als jährliche Reise im Spätsommer etabliert, die vom Harz bis nach Ostpreußen und von Thüringen bis an die Ostsee reichen.
Mit Hitlers Ermächtigung 1933 folgt auch auf der Insel ein harter Paradigmenwechsel: Die im Geiste der NS-Ideologie agierenden „Deutschen Christen“ können gleich zu Anfang des „braunen Frühlings“ auf Hermannswerder Fuß fassen. Parteiseitig aufgenötigte Stellenbesetzungen, die unter dem Deckmantel der Kirche als nationalsozialistische Kettenhunde mit Verleumdungen, Bespitzelung und Denunziation die geistliche Gleichschaltung vorbereiten.
Als Anhänger der Bekennenden Kirche gerät Johann Driesen in Opposition zum staatlich verordneten Führerkult. Mit seiner Familie, die auch auf der Insel lebt, sucht er eine sichere Existenz in unauffälliger Anpassung. Die Tür immer offen für Gleichgesinnte und Ratsuchende. Er ist die „starke Stütze des Kollegiums“ und „immer bereiter Helfer in allerlei Nöten.“ Im Rahmen seiner Möglichkeiten hält er an den grundsätzlichen humanistischen und ethischen Idealen der Hoffbauerschen Bildungs- und Erziehungstraditionen fest. Als neuer Schulleiter verschont NSDAP-Mitglied Dr. Walter Jantzen sein Kollegium weitgehend von ideologischer Gleichschaltung - sofern es keinen Ärger gibt. Und Physik zählt ohnehin nicht zu den „gesinnungsbildenden" Fächern.
Driesen folgt dem Anspruch eines motivierenden Zugangs zur meist als trocken empfundenen Naturwissenschaft auch als Co-Autor in einem neu entwickelten Physikbuch. 1940 wird es als „Lehrbuch der Physik für Mädchenschulen“ ohne seine Namensnennung veröffentlicht. Der Verlag teilt ihm nur mit, ein ostmärkischer Verfasser müsse aus Gründen geopolitischer Gewichtung statt seiner berücksichtigt werden. Dass seine ideologische Distanz zum Regime bei dieser Entscheidung eine Rolle spielt, möchte man vermuten.
Seine Ehefrau Melitta erinnert sich voll Schrecken an die Zerstörung der großen Martin Luther-Statue in der Eingangshalle des Gymnasiums. Es ist nun nicht mehr die Zeit für seine Botschaft. Vom Transporter gestürzt, wird sie öffentlichkeitswirksam mit Schmiedehämmern zerschlagen.
Trotzdem: „Papa Driesen“, wie die Mädchen ihn nennen, kann jeder anmerken, dass er nur noch das tut, was im Rahmen seiner Lehrtätigkeit erwartet wird. Es geht dabei auch um die Existenz seiner Familie.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945 beginnt der Unterricht bereits im selben Monat. Die meisten Schülerinnen sind noch extern untergebracht. Doch auch unter den neuen politischen Bedingungen wird die Situation für den Physiklehrer nicht besser. Fast das gesamte Kollegium muss gehen. Viele sofort, manche können noch eine Weile als Arbeitskräfte in anderen Bereichen der Stiftung Anstellung finden: Johann Driesen wird Arbeiter im Maschinenhaus auf der Insel.
In Ermangelung politisch unbelasteten Lehrpersonals darf er übergangsweise 14 Wochenstunden in der neuen Einheitsschule unterrichten. Für die Kirche leitet er als Kreiskatechet Lehrkräfte an und übernimmt die Heimleitung in der Potsdamer Wilhelm-von-Türck-Stiftung.
Erst als er mit seiner Familie nach Westdeutschland geht, eröffnen sich neue Perspektiven: Endlich wieder Lehrer!